Die zahlreichen neuronalen Netzwerke des zentralen Nervensystems sind mit vielen Organsystemen des Körpers eng vernetzt, insbesondere gibt es enge funktionelle Verbindungen zwischen den Neurotransmittern im ZNS, stressrelevanten Hormonen und dem zellulären Immunsystem. Daher gibt es also zahlreiche psychische Vorgänge, die Auswirkungen auf den Stoffwechsel im ganzen Körper haben und zu körperlichen Reaktionen führen. Aber: „Nicht jede körperliche Veränderung entspricht gleich einem krankheitswertigen Symptom“, betont Dr. med. Michael Purucker. „Aus der ärztlichen Erfahrung und psychosomatischen Forschung ist klar belegt, dass starke Gefühlsregungen sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht direkt mit körperlichen Reaktionen einhergehen können. Im Einzelnen können zum Beispiel auch Ekel mit Übelkeit und Erbrechen, Ärger mit Bluthochdruck und Herzfrequenzanstieg sowie Angst mit Blutdruckabfall und Kreislaufdysregulation verbunden sein.“
Der Körper reagiert auf Stress
Dr. Purucker ist Leitender Oberarzt der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Bezirkskrankenhaus Bayreuth. Er nennt ein Beispiel: Lampenfieber. Der innere Stress ist hier mit einer beschleunigten Herzfrequenz verbunden, man neigt zum Erröten, verspürt den Drang, auf Toilette zu müssen, schwitzt. Diese psychosomatischen Reaktionen zeigen, dass innerer Stress über das sogenannte vegetative Nervensystem im gesamten Organismus dazu führt, dass Adrenalin ausgeschüttet und der Körper sofort in eine sofortige Verteidigungs- oder Fluchtbereitschaft versetzt wird.
Unbewusste Emotionen
Psychosomatische Reaktionen sind aber nicht immer nur durch aktuelle Überlastungen, sondern häufig auch durch innere Anspannungen im Zusammenhang mit innerseelischen, meist unbewussten Konflikten zu erklären. In solchen Fällen ist die Beeinträchtigung der körperlichen Funktionen Folge von unbewussten Emotionen wie Angst oder Ärger, wie zum Beispiel bei psychosomatischen Störungen der sexuellen Funktion. Zu den psychosomatischen Reaktionen zählen auch Funktionsstörungen der inneren Organe. Beispiel: ein nervöser Darm, Engegefühl oder Brustschmerzen ohne organische Ursache. Eine innere ängstlich bedingte Anspannung kann auch zu einer starken Verunsicherung des ganzen Körpergefühls führen, das von den Betroffenen als unspezifischer Schwindel wahrgenommen wird. Da diese Organreaktionen mit ziemlicher Beeinträchtigung verbunden sein können, treten dann häufig auch Ängste vor einer körperlichen Erkrankung mit vermehrter Eigenbeobachtung auf, was dann zusätzlich eine Verstärkung der Angst mit entsprechenden körperlichen Reaktionen auslösen kann, erklärt der Facharzt Dr. med. Michael Purucker.
Hohe innere Anspannung
Anhaltende und schwerere psychosomatische Erkrankungen sind meist Folge einer hohen inneren Anspannung im Zusammenhang mit unbewussten inneren Konflikten oder Schwierigkeiten der Emotionsbewältigung. Eine zu geringe Feinfühligkeit der elterlichen Fürsorge für das Kind oder anderer Belastungen in der frühen Lebensentwicklung können zu einer Störung des Selbsterlebens, der Emotionsbewältigung und anderer Bereiche führen, die für ein gutes Körpergefühl wichtig sind. Darüber hinaus gibt es psychogene Störungen, bei denen zum Beispiel Bewegungsabläufe oder Sinneswahrnehmungen im Zusammenhang mit unbewussten psychischen Vorgängen gestört sind. Diese Funktionsstörungen – die bis zu Lähmungen oder Ohnmachten führen können – werden in der medizinischen Fachsprache als dissoziative Störungen bezeichnet: weil das Zusammenwirken der zentralnervösen Netzwerke durch einen starken inneren Stress (meist als Folge unbewusster Ängste) blockiert wird, ist die bewusste Steuerung der Bewegungsabläufe oder der Umweltwahrnehmung beeinträchtigt. In schweren Fällen führt die Dissoziation bis zu pseudoepileptischen oder psychogenen Schwäche- oder Lähmungszuständen.
Organische Ursachen ausschließen
Ist man jetzt also psychisch krank, wenn der Körper schmerzt? Ehe eine psychosomatische Erkrankung diagnostiziert wird, werden zunächst organische Ursachen ausgeschlossen. Es wird auch abgeklärt, inwieweit organische und psychische Probleme möglicherweise gemeinsam an dem Beschwerdebild beteiligt sind. Können die Beschwerden nicht oder nicht zureichend organisch erklärt werden, ist zunächst ein Gespräch über die Lebensumstände, in der die Beschwerden aufgetreten sind notwendig, außerdem über die psychischen und sozialen Belastungsfaktoren. Einbezogen wird hier das gesamte Leben, einschließlich der Erlebnisse in der Kindheit. Die Diagnose einer psychosomatischen Erkrankung erfordert also immer eine ausführliche psychotherapeutische Gesprächsführung. Forschungen haben deutlich gezeigt, dass ein klarer Zusammenhang zwischen dem Vorliegen von schweren Kindheitsbelastungen durch psychosozialen oder traumatisierenden Stress beziehungsweise durch Kindesmisshandlung und dem Auftreten von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen besteht. Die psychologische und psychosomatische Forschung zeigen, dass der heranwachsende Organismus eines Kindes durch die stressvermittelten molekularen Reaktionen belastet wird. Stress in der frühen Kindheit beeinflusst das Immunsystem derart, dass eine höhere Rate von Autoimmunerkrankungen resultiert.
Psyche behandeln
Die Behandlung der psychischen Erkrankung lässt auch körperliche Symptome verschwinden. Entsprechende psychotherapeutische Gespräche führen bei zuvor psychisch stabilen Menschen zu einer raschen Besserung ihrer psychosomatischen Reaktion. Bei Patienten, die seit ihrer Kindheit den Belastungen ausgesetzt oder die traumatisiert sind, bilden sich die psychosomatischen Reaktionen oft nur Schritt für Schritt zurück.
Körper macht Psyche krank
Nicht nur die Psyche kann zu körperlichen Beschwerden führen, auch umgekehrt gibt es primär körperliche Krankheiten mit schwer zu ertragenden Beschwerden (zum Beispiel rheumatoide Arthritis oder Morbus Bechterew): Der eigene Körper wird als stark belastet erlebt und die Betroffen verspüren sowohl eine Belastung ihres Selbstgefühls als auch eine Erschöpfung die insgesamt zum Beispiel zu einem depressiven Lebensgefühl bis hin zu einer schweren Depression führen kann. Laut Oberarzt Dr. med. Michael Purucker spricht man hier von den somato-psychischen und psychosomatischen Wechselwirkungen. So hat z. B. die psychosomatische Forschung gezeigt, dass bei der Behandlung der Autoimmunerkrankungen psychosomatische Faktoren eine große Bedeutung haben.
Kann man psychosomatische Erkrankungen vorbeugen? Hier unterscheidet Dr. Purucker zwischen Erkrankungen, die als Folge von lang anhaltendem Stress auftreten und solchen, die aufgrund einer situativen Überlastung auftreten. „Bei Betroffenen, die sich zuvor als psychisch stabil und belastbar erlebt hatten, können die psychosomatischen Symptome Ausdruck einer situativen Überforderung, z. B. durch Zielkonflikte wegen gleichzeitiger starker Anforderungen im Beruf oder in der Familienrolle bedingt sein.“ Typische Beispiele wären hier psychosomatisch bedingter Tinnitus, Spannungskopfschmerzen oder Beklemmungsgefühle in der Brust. Das lässt sich vermeiden, indem man dafür sorgt, sich beruflich und privat nicht über Gebühr zu belasten und im Alltag für Erholungspausen zu sorgen. Hier kann man beispielsweise mit Verfahren zur Entspannung wie autogenem Training oder medizinischer Hypnotherapie oder Achtsamkeitstherapie gegenwirken. Auch regelmäßige Schlafzeiten, regelmäßiges Ausdauertraining und regelmäßig entspannende Tätigkeiten reduzieren den Stress und damit das Risiko von psychosomatischen Stress-Reaktionen.
Schwere und anhaltende psychosomatische Reaktionen entstehen meistens im Zusammenhang mit länger bestehenden Belastungen, insbesondere häufig im Zusammenhang mit schweren psychischen und sozialen Belastungen in den Kinder- und Jugendjahren. Diese stehen meist im Zusammenhang mit starken psychosozialen Belastungen oder psychischen Problemen der Eltern: Das stressbedingte fehlende Einfühlungsvermögen der Eltern ist für die Kinder oft mit der Frustration ihres natürlichen Bindungsbedürfnisses oder einer hohen Angstbelastung verbunden, was zu einer erheblichen Störung der Emotionsbewältigung und Depressivität führt.
Misshandelte Kinder werden krank
Hier ist auf das leider nicht so seltene Problem der Vernachlässigung der Fürsorge für das Kind bis hin zur körperlichen oder psychischen Kindesmisshandlung hinzuweisen. Bei Kindern, die anhaltend starker Bedrohung ausgesetzt waren und wenig Schutz erlebt haben, können sich schwere psychosomatische Erkrankungen bis hin zu komplexen Traumafolgestörungen entwickeln. Die psychiatrische Grundlagenforschung zeigt, dass eine in der Kindheit erlittene schwere Traumafolgestörung auf Grund des erlebten Hochstresses die Entwicklung des zentralen Nervensystems nachteilig beeinflusst – mit der Folge, dass die psychische Entwicklung und die psychosoziale Integration belastet sind. Will man den daraus entstehenden Entwicklungsstörungen und psychischen und psychosomatischen Erkrankungen (wie z. B. Essstörungen, Depression, Zwang, Selbstverletzungen, Suchtverhalten) vorbeugen, gilt es Familien mit entsprechenden Problemen frühzeitig zu begleiten.
Die wissenschaftlichen Untersuchungen der frühkindlichen Entwicklung zeigen seit langem eindeutig, dass die Beziehungs- und Bindungserfahrungen des Kindes gerade in den ersten Lebensjahren eine große Bedeutung für die Entwicklung der psychischen und psychosomatischen Gesundheit haben. So gibt es psychologische Faktoren, wie zum Beispiel die einfühlende Betreuung der Eltern, die im glücklichen Fall das Kind auch bei äußeren Belastungen vor einem starken Stress schützen oder im ungünstigem Falle (v.a. bei entwertendem, ständig zurückweisendem Erziehungsstil) mit einem hohen dauerhaften psychophysiologischen Stress des Kindes verbunden sind. Aus der Perspektive der Gesundheitsvorsorge ist es daher wichtig, dass vor allem eine psychologisch sinnvolle Erziehung von Kindern und Begleitung von Jugendlichen erfolgt. Der Bedarf sei da, so Dr. med. Michael Purucker.
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