Viele Menschen nutzen den Jahreswechsel, um neue Vorsätze zu fassen: Mehr Sport treiben, gesünder essen oder der Verzicht auf Alkohol und Nikotin. Für einen Großteil der Bevölkerung sind diese Ziele ein Anreiz, sich weiterzuentwickeln und das Jahr mit neuer Energie zu starten. Für Menschen mit Depressionen sind die traditionellen Neujahrsvorsätze jedoch eher eine Quelle des Drucks und der Frustration anstatt der Motivation.
Denn Depressionen bringen nicht nur Antriebslosigkeit und Erschöpfung mit sich, sondern oft auch ein verzerrtes Bild der eigenen Fähigkeiten und des Selbstwertes. Die negativen Gedanken und das Gefühl, den gesellschaftlichen Erwartungen nicht gerecht zu werden, können durch die Neujahrsvorsätze der anderen noch verstärkt werden. Menschen, die unter Depressionen leiden, können schnell das Gefühl bekommen, diesen Anforderungen nicht gewachsen zu sein.
Die Vorstellung, im neuen Jahr alles besser machen zu müssen und sich radikal weiterzuentwickeln, passt nicht zu der Lebenssituation von depressiven Menschen. Denn für sie können bereits alltägliche Aufgaben zu einer Herausforderung werden. Ein einfaches Ziel, wie „mehr Sport machen“ kann für jemanden mit Depressionen unbezwingbar wirken, da die Anstrengung, den Tag zu überstehen, bereits eine enorme Leistung ist.
Zu dem eigenen inneren Druck kommt auch der gesellschaftliche Druck. Bereits in der Weihnachtszeit suggerieren viele, dass ein „Neustart“ notwendig sei, um als erfolgreicher und glücklicher Mensch zu gelten. Eine depressive Person fühlt sich in diesem Kontext oft isoliert und überfordert, da sie diesen Erwartungen nicht entsprechen kann. Vor allem in den sozialen Medien wird eine perfekte Welt präsentiert: schlanke Körper, glückliche Familien, erfolgreiche Karrieren und aufregende Hobbies. Der ständige Vergleich mit anderen Menschen kann das Gefühl der Unzulänglichkeit verstärken und Menschen mit Depressionen in ihrer Entfaltung hemmen. Sie fragen sich, warum es anderen so leichtfällt, gute Vorsätze zu fassen und umzusetzen, während sie selbst das Gefühl haben, nicht einmal die einfachsten Aufgaben bewältigen zu können.
Dr. Al-Khatib ist kein Freund von Neujahrsvorsätzen: „Man kann sich das ganze Jahr Ziele setzten.“ Für ihn ist es nicht notwendig auf den Jahreswechsel zu warten, um Veränderungen zu bewirken – vor allem für depressive Menschen. „Für Menschen mit Depressionen ist es sehr wichtig, sich Ziele zu setzen. Im ersten Therapiegespräch ist das Thema essentiell. Ich möchte von dem Patienten wissen, wo die Reise hingehen soll, damit er optimal behandelt werden kann“, erklärt der Mediziner. Zielsetzungen müssen dabei sehr individuell und spezifisch sein. Im Gegensatz zu Neujahrsvorsätzen sollten sie realistisch erreichbar sein und nicht nur zur Motivation dienen. „Es ist besser, ein Ziel in kleinen und nachhaltigen Schritten anzugehen“, so Dr. Al-Khatib. Zum Beispiel könnte man sich vornehmen, an drei Tagen in der Woche einen Spaziergang zu machen, anstatt sich zu sagen „ich muss täglich ins Fitnessstudio“.
Um den inneren Druck zu lindern, kann es helfen, Neujahrsvorsätze nicht als Pflicht anzusehen, sondern als Möglichkeit, sich etwas Gutes zu tun. Achtsamkeit, Akzeptanz und Selbstmitgefühl sind in dieser Hinsicht von großer Bedeutung. Es ist wichtig, sich selbst zu erlauben, auch in schwierigen Zeiten zu versagen und nicht zu hart mit sich ins Gericht zu gehen. Zudem hilft es depressiven Menschen in den meisten Fällen, über die eigenen Ängste und Unsicherheiten bezüglich der Neujahrsvorsätze zu sprechen. Auch das Verständnis des Umfeldes ist von Bedeutung. Anstatt von Depression Betroffene mit hohen Erwartungen zu konfrontieren, sollten sie mit Akzeptanz und Empathie unterstützt werden. So wird der Jahreswechsel nicht mehr zu einer zusätzlichen Belastung, sondern kann eine Chance zur positiven Veränderung sein.