Frau Tieden, haben wir Depressionen oder Burnout weil es uns zu gut geht? In Kriegs- und Notzeiten fokussieren wir uns vermutlich auf etwas anderes, als die Psyche… oder?
Dr. med. Stephanie Tieden: Während einer akuten lebensbedrohlichen Situation wie einem Krieg, geht es erst mal nur um das Funktionieren und weitere Überleben, das ist klar. Das heißt aber nicht, dass das nichts mit unserer psychischen Gesundheit machen würde – es hat vielleicht keine unmittelbaren, sofortigen Folgen, aber doch langfristig. Wie sehr Notsituationen an unserer Psyche zehren können, sehen wir an den unzähligen Menschen, die einen Krieg, eine Flucht oder andere existentiell bedrohliche Zustände überlebt haben und später posttraumatische Belastungsstörungen, Angststörungen und Depressionen entwickeln. Das betrifft einerseits aktuell Menschen zum Beispiel aus der Ukraine oder Syrien, aber war auch schon früher der Fall. Schon kriegsüberlebende Soldaten aus dem ersten Weltkrieg oder unzählige Vietnam-Veteranen haben uns gezeigt, dass das deutliche Spuren in unserer Psyche bis hin zum Suizid hinterlassen kann.
Der französische Soziologe Ehrenberg sagt: Depression ist eine Krankheit des Überflusses – nicht der Not.
Dr. med. Stephanie Tieden: Das kann man so nicht sagen. Eine Wohlstandskrankheit ist Depression definitiv nicht, ganz im Gegenteil. Grundsätzlich können alle Menschen eine Depression bekommen, aber wir wissen, dass das Risiko sehr viel höher ist, je geringer der sogenannte Sozioökonomische Status ist. Das heißt, Menschen, die in Armut leben, keine gute Bildung bekommen haben oder ohne Beruf beziehungsweise arbeitslos sind, haben ein viel höheres Risiko als andere, die eben „im Wohlstand“ leben.
Es ist quasi weniger der Wohlstand als solches, was depressiv machen kann, sondern – wie auch Alain Ehrenberg das sagt - das Scheitern daran, ihn für sich selbst zu erlangen. Obwohl uns doch suggeriert wird, dass jede und jeder das schaffen könne.
Wirtschaftliche Produktivität eines Landes und damit verbundener Wohlstand richtet den Blick auf Leistung: Was macht das mit den Menschen?
Dr. med. Stephanie Tieden: Leistungsorientierung ist per se ja erst mal nichts Schlechtes, sondern liegt in der Natur des Menschen. Das Streben nach Erfolg kann uns antreiben und weiterbringen und viele gute Auswirkungen auf uns einzelne aber auch die gesamte Gesellschaft haben.
Allerdings hat eine starke beziehungsweise ausschließliche Leistungsorientierung auch ihre Schattenseiten. In kapitalistischen Systemen wird uns ja suggeriert, dass jeder seines Glückes Schmied sei. Im berühmten amerikanischen Traum wird man vom Tellerwäscher zum Millionär, aus eigener Kraft und Leistung… Aber das stimmt so nicht (mehr). Wir streben aber weiter danach, strengen uns an… unsere gesamte Gesellschaft ist weiter auf Leistung ausgelegt, möglichst immer schneller, höher, weiter, spätestens in der Grundschule beginnend. Leistung wird erwartet und positiv belohnt, Nicht-Leistung verachtet und abgewertet, wenn nicht sogar bestraft. Und das beschränkt sich nicht nur auf den beruflichen Erfolg und finanziellen Wohlstand, sondern auf alle Lebensbereiche. Wir alle sollen beruflich erfolgreich und gleichzeitig maximal gebildet und sportlich-fit sein, ein gutes soziales Umfeld haben und uns liebevoll um Partner, Kinder, Haus und Garten kümmern… und wer das nicht schafft, ist selbst schuld, hat versagt oder eben noch nicht genug getan.
Gleichzeitig erleben wir durch Werbung und Marketing, dass Zufriedenheit und Glück vor allem an materiellen Wohlstand gekoppelt seien und es im Leben darum ginge, sich möglichst viel leisten und möglichst viel Besitz anhäufen zu können. Entsprechend können wir dann bitter enttäuscht werden, wenn wir selbst in der Millionenvilla und mit dem tollsten Auto unglücklich bleiben und nicht zufrieden sind, obwohl wir doch scheinbar „alles“ haben.
Sind besonders leistungsorientierte Menschen anfälliger für Depressionen?
Dr. med. Stephanie Tieden: Ja, das kann ein Risikofaktor für die Entstehung von depressiven Störungen sein – wobei man hier einschränkend sagen muss, dass Depressionen multifaktoriell bedingt sind und es nicht die Ursache gibt, sondern eher ein Zusammenwirken von ganz verschiedenen Faktoren.
Aber ja, jemand der vor allem seinen Selbstwert stark an Leistung gekoppelt hat, hat ein erhöhtes Risiko für depressive Erkrankungen, wenn er oder sie an Leistungszielen scheitert und dann nicht nur ein Traum, sondern auch direkt das ganze Selbstbild und die Selbstdefinition gescheitert sind. Denn nach der Grundüberzeugung „ich bin etwas wert, weil ich etwas leiste“ folgt ja auch logisch „wenn ich nichts mehr leiste, was bin ich dann noch wert?“ bis hin zu „bin ich überhaupt lebenswert?“ und „bin ich vielleicht sogar nur noch eine Last für die anderen?“. Viele Menschen mit Depressionen treiben solche existentiellen Fragen um.
Was sind Auslöser einer Depression?
Dr. med. Stephanie Tieden: Wir gehen von einem sogenannten bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell aus. Es gibt einerseits biologische Faktoren wie genetische Veranlagung oder begünstigende körperliche Erkrankungen, andererseits aber auch psychologische wie zum Beispiel die schon erwähnte Grundannahme „ich bin nur etwas wert, wenn ich etwas leiste“ aber auch soziale Faktoren wie das Vorhandensein von beziehungsweise der Mangel an guten sozialen Kontakten, Arbeit, finanzieller Sicherheit…
Wenn hier verschiedene Faktoren zusammenkommen beziehungsweise andererseits vor Depression schützende Faktoren wegfallen (zum Beispiel Verlusterlebnisse), dann kann eine Depression entstehen.
Anhand welcher Symptome merke ich eine Depression, was wäre dann der erste Schritt?
Dr. med. Stephanie Tieden: Wir kennen neben den drei Hauptsymptomen gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit und weniger Interesse sowie vermindertem Antrieb und schneller Ermüdbarkeit (im normalen Alltag) noch einige Nebensymptome, von denen einige für die Diagnosestellung vorliegen müssen: Konzentrationsmangel, wenig Selbstwert, Schuldgefühle oder Gefühle der Wertlosigkeit, negative Selbst- und Zukunftssicht und Zukunftsängste, Schlafstörungen, Appetitstörungen (oft mit Gewichtsverlust) und im schlimmsten Fall auch Suizidgedanken.
Wenn solche Symptome länger als zwei Wochen andauern und sich nicht wieder bessern, dann sollte man sich Hilfe suchen… Hausärzte und Hausärztinnen sind eine gute erste Anlaufstelle. Man kann auch online einen Test machen, ob unter Umständen eine Depression vorliegt. Allerdings können solche Tests immer nur eine vage Hilfestellung sein, wenn man bereits selbst den Verdacht hat, an einer Depression zu leiden – diagnostisch oder gar beweisend für das Vorliegen einer wirklichen Erkrankung sind sie aber nicht. Deshalb sollte man bei Anzeichen für eine mögliche Depression unbedingt ärztliche und/oder psychotherapeutische Hilfe suchen.
Tipp:
Ein guter Online-Selbsttest findet sich auf der Website der Deutschen Depressionshilfe: https://www.deutsche-depressionshilfe.de/depression-infos-und-hilfe/selbsttest-offline
Info:
Das Depressionszentrum am Bezirkskrankenhaus Bayreuth ist unter der Telefonnummer 0921/283-0 zu erreichen. Weitere Infos unter https://www.gebo-med.de/1/bezirkskrankenhaus-bayreuth/depressionszentrum-bayreuth
Behandlungen sind stationär oder tagesklinisch möglich.
Am Bezirkskrankenhaus Bayreuth sind Selbsthilfegruppen für Menschen, die an einer Depression leiden, verankert. Den Kontakt stellt die Selbsthilfebeauftragte Susanne Freund her. Sie ist unter 0921/283-9884 zu erreichen.