Der Umschwung kommt urplötzlich – ohne Vorwarnung. Eben noch war alles in Ordnung, dann überkommt Mellie P. (Name geändert) eine riesengroße Wut. Die 21-Jährige fängt an zu brüllen, trommelt mit den Fäusten auf einen Tisch oder gegen eine Tür, manchmal schmettert sie sogar einen Gegenstand gegen die Wand. Mellies Mutter, die das Verhalten ihrer Tochter noch vor einigen Jahren für das Aufbegehren einer Pubertierenden hielt, weiß es inzwischen besser: Mellie leidet unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS).
Für Menschen mit BPS ist das Leben wie eine unkontrollierte Achterbahnfahrt – mit zeitweise schwerem Leidensdruck. Oder wie ein Vulkan, in dem es brodelt und der jederzeit ausbrechen kann. Auch Mellie weiß inzwischen, dass das Zusammenleben mit ihr nicht einfach ist, ändern kann sie es bisher meistens nicht: „Ich bin in solchen Momenten innerlich so angespannt, dass ich fürchte explodieren zu müssen. Es ist ein unerträgliches Gefühl.“ Um diese extreme Anspannung zu lindern, setzen viele „Borderliner“ selbstschädigende Verhaltensweisen ein: Sie verletzen sich selbst, um sich wieder spüren zu können, neben Drogen, geben exzessiv Geld aus oder stürzen sich in riskante Aktivitäten.
Im Grenzbereich
Dr. med. Nedal Al-Khatib ist Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Bezirksklinikum Obermain. Zu seiner Klinik gehört auch eine Transitionsstation, auf der Jugendliche und junge Erwachsene behandelt werden. Auch Mellie gehört dort zu seinen Patientinnen. Der Chefarzt erklärt: „Wörtlich übersetzt bedeutet Borderline Grenzlinie, denn ursprünglich siedelte man Betroffene nach psychoanalytischem Verständnis in eine Art Grenzbereich von neurotischen und psychotischen Störungen an, da Symptome aus beiden Bereichen diagnostiziert wurden. Heute weiß man, dass die Diagnose Borderline eine ganz eigenständige psychische Störung mit vielen unterschiedlichen Symptomen ist.“ (siehe Info-Kasten) Und obwohl die ursprüngliche Bedeutung des Wortes keine Gültigkeit mehr hat, können sich Betroffene sehr gut mit einem „Grenzgänger“ identifizieren: Sie bewegen sich auf der Grenze zwischen Normalität und Krankheit, zwischen Nähe und Distanz, gut oder schlecht, top oder flopp. Alles ist schwarz oder weiß – Zwischentöne gibt es nicht. Sie schwanken zwischen herrlichen Hochs und tragischen Tiefs. An einem Tag lieben sie ihren Partner heiß und innig, am nächsten hassen sie ihn.
Wie entsteht diese Störung?
Viele „Borderliner“ haben in ihrer Kindheit oder frühen Jugend Grenzverletzungen am eigenen Leib erfahren müssen. Es gilt inzwischen als gesichert, dass ein Zusammenspiel aus genetischen Faktoren und in vielen Fällen frühen traumatischen Erfahrungen für die Entstehung der Borderline-Störung verantwortlich ist. Über die Hälfte der Betroffenen berichtet von schwerwiegendem Missbrauch, fast zwei Drittel von emotionaler Vernachlässigung, fast alle über ein soziales Umfeld, in dem sie sich in hohem Maß fremd, gefährdet oder gedemütigt gefühlt haben. So wie bei Mellie, deren Mutter einen neuen Mann kennlernte, als sie drei Jahre alt war. Seit ihre kleine Schwester ein Jahr später zur Welt kam, fühlte sie sich von der „neuen“ Familie ausgegrenzt und kam sich minderwertig vor. Wie das fünfte Rad am Wagen. Dr. Al-Khatib: „Viele Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden extrem darunter, kein eigenes Identitätsgefühl zu haben. Sie sind sich selbst fremd und orientieren sich manchmal ausschließlich an den Erwartungen der Umgebung. Sie selbst wissen gar nicht, wer sie sind und was sie wollen, und müssen angeleitet werden, das herauszufinden.“
Wohlwollen zeigen
Auch wenn es Familienmitgliedern, Partnern, Freunden oder Kollegen schwer fällt, den emotionalen Schwankungen von Borderline-Betroffenen Verständnis entgegenzubringen, sollten sie trotzdem versuchen, wohlwollend mit ihnen umzugehen. Schließlich können die Erkrankten ihre Stimmungsschwankungen selbst nicht verstehen und kaum ertragen. Reagiert das Umfeld mit Ablehnung oder Abwertung, werden die negativen Gefühle nur noch verstärkt. „Häufig sind Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung sehr daran interessiert, mehr über ihre Erkrankung herauszufinden und zu lernen, in Alltagssituationen besser zurecht zu kommen. Dabei geht es vor allem um das Erlernen von guten Ritualen, von Regelmäßigkeit zum Beispiel bei Ernährungs-, Trink-, Schlaf- und Bewegungsgewohnheiten“, berichtet Dr. Al-Khatib.
In Mellies Fall genügte diese Hilfe zur Selbsthilfe nicht. Da sie sich immer wieder und zunehmend stärker mit Rasierklingen verletzte, zusätzlich an einer Depression litt und ihrer Mutter gegenüber mit Suizid drohte, wurde sie in die Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Kutzenberg eingewiesen. Aus gutem Grund: Weit über die Hälfte aller Borderline-Patienten versucht mindestens einmal, sich das Leben zu nehmen. Im Rahmen einer stationären, psychotherapeutischen Behandlung werden die Patienten zunächst stabilisiert. Im Mittelpunkt stehen dabei Fertigkeiten (Skills), die verhindern, dass sich Betroffene selbst schädigen oder die Therapie vorzeitig abbrechen. Im zweiten Schritt werden dann neue Verhaltens- und Denkweisen trainiert:
- Verbesserung der Wahrnehmung der eigenen und anderer Personen
- Einübung von Maßnahmen zur Selbstkontrolle und zum Umgang mit Krisen
- Abbau des extremen Schwarz-Weiß-Denkens
- Erlernen des Umgangs mit Stress und der Steuerung der eigenen Gefühle
Chance auf Heilung
Lange Zeit galt die Therapie von Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung als sehr problematisch. Ganz einfach deswegen, weil Boderliner ihre Therapeuten, genauso wie alle anderen Menschen, anfangs ganz toll zu finden, um ihn oder sie bei der kleinsten Enttäuschung stark abzuwerten. Die Folge: Häufige Therapeutenwechsel und Therapieabbrüche. Was also kann man tun? Der Chefarzt Dr. Al-Khatib: „Wichtig ist, dass sich Borderline-Patienten möglichst früh in ärztliche Behandlung begeben. Ob die Störung heilbar ist, hängt auch von der Schwere und Vielfalt der Symptome ab. Durch eine individuelle Therapie können Betroffene die gravierendsten Auswirkungen der Störung gut in den Griff bekommen.“
Weitere Informationen
Fast zwei Prozent der Bevölkerung leiden unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung: Während bei jungen Menschen rund sechs Prozent betroffen sind, sind es in der Gruppe der über 40-Jährigen nur noch etwa 0,7 Prozent.
Die ICD-10 (international anerkanntes System zur Klassifikation aller Erkrankungen laut Weltgesundheitsorganisation WHO) und das DSM-5 (Statistisches Manual aller psychischen Erkrankungen, das im angelsächsischen Raum Anwendung findet) bezeichnet die Borderline-Persönlichkeitsstörung als „Emotional instabile Persönlichkeitsstörung borderline typ“. Von den folgenden neun diagnostischen Kriterien für die Borderline-Persönlichkeitsstörung sollten mindestens fünf erfüllt sein:
- Verzweifeltes Bemühen, ein reales oder imaginäres Alleinsein zu verhindern
- Ein Muster von instabilen und intensiven zwischenmenschlichen Beziehungen, das sich durch einen Wechsel zwischen extremer Idealisierung und Abwertung auszeichnet
- Identitätsstörung: eine ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder des Gefühls für sich selbst
- Impulsivität in mindestens zwei potentiell selbstschädigenden Bereichen
- Wiederkehrende Suiziddrohungen, Suizidandeutungen oder –versuche oder selbstschädigendes Verhalten
- Affektive Instabilität, die durch eine ausgeprägte Orientierung an der aktuellen Stimmung gekennzeichnet ist: zum Beispiel starke episodische Niedergeschlagenheit, Reizbarkeit oder Angst
- Chronisches Gefühl der Leere
- Unangemessene, starke Wut oder Schwierigkeiten, Wut oder Ärger zu kontrollieren (zum Beispiel häufige Wutausbrüche)
- Vorübergehende, stressabhängige paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome