Corona kann krankmachen. Auch, wenn man das Virus gar nicht hat. Monatelange Einschränkungen unseres Alltags, Doppelbelastungen durch Homeoffice und Homeschooling … Corona wurde für die allermeisten Menschen zum radikalen Einschnitt im Leben. Nach mehr als einem Jahr im Ausnahmezustand sind bei vielen Menschen die Kraftreserven aufgebraucht. Dr. med. Stephanie Tieden, Oberärztin am Depressionszentrum des Bezirkskrankenhauses Bayreuth, hat dabei vor allem Familien und hier wieder insbesondere die Mütter im Blick.
Die Corona-Pandemie hat die Zahl der depressiven Patienten erhöht. Warum?
Dr. med. Stephanie Tieden: Vereinfacht gesagt kommt es zu einer depressiven Entwicklung, wenn zu wenig Widerstandsfähigkeit (psychisch wie physisch) für zu viele Belastungen besteht. Viele Menschen haben zwar viele Belastungsfaktoren, aber auch noch genug Widerstandskraft (wir nennen das Resilienz), um mit diesen Belastungen so umzugehen, dass die Kraft für alles ausreicht. Wenn aber die Belastungen immer mehr werden und gleichzeitig Möglichkeiten wegfallen, Kraft auch wieder neu zu tanken, dann ist irgendwann quasi einfach der Akku leer. Die Corona-Pandemie hat unser Leben jetzt schlagartig stark verändert; viele Belastungsfaktoren sind neu entstanden, wie zum Beispiel Sorgen um die eigene Gesundheit oder die Gesundheit naher Angehöriger, Sorge um den Arbeitsplatz, Kurzarbeit und finanzielle Belastungen, zunehmende Belastung durch Schwierigkeiten in der Kinderbetreuung und Homeschooling, Sorgen um die berufliche Zukunft. Auf der anderen Seite sind aber auch viele Möglichkeiten zum Kraft-Tanken weggefallen: Kaum soziale Kontaktmöglichkeiten, wenig Sportangebote, wenig Freizeitgestaltungsmöglichkeiten wie Schwimmbad, Kultur, Musik, Sport… eines allein wäre nicht so schlimm, aber wenn in den Lockdown-Phasen alles komplett wegbricht, dann haben manche Menschen einfach gar keine Möglichkeiten mehr, sich zu erholen. Es gibt Familien, die seit Monaten mit fünf Leuten in einer 2-Zimmer-Wohnung ohne Garten oder Balkon leben, wenn dann noch eine Quarantäne-Situation dazu kommt, dann liegen ganz schnell die Nerven blank, gerade, wenn auch noch die finanzielle Situation zusätzlich prekär ist.
Sind davon mehr Frauen oder Männer betroffen?
Dr. med. Stephanie Tieden: Es gibt viele Untersuchungen, auch schon aus der Zeit vor der Corona-Pandemie, die zeigen, dass in anhaltenden Stresssituationen Frauen generell eher Unsicherheit, Ängste und Rückzugsverhalten entwickeln, das sind quasi klassisch depressive Muster, während Männer häufiger Suchtverhalten und Aggressivität zeigen. Belastend ist die Situation für alle Menschen, egal welchen Alters oder Geschlechtes. Auffällig ist aber auch, dass insbesondere Mütter besonders von coronabedingten Depressionen betroffen sind. Das hängt zusammen mit der vielfachen Mehrbelastung durch die mangelnden Kinderbetreuungsmöglichkeiten, Homeschooling und die erhöhte sogenannte „Care-Arbeit“, das „Sich kümmern um das Wohl der Familie“. Hier zeigen mittlerweile mehrere Untersuchungen, dass in vielen Familien überwiegend wieder Frauen den Mehraufwand von „Care-Arbeit“ übernommen haben. Aber auch alleinstehende Menschen leiden durch die soziale Isolation besonders stark unter der Corona-Pandemie.
Steigert Corona das Risiko für Depressionen?
Dr. med. Stephanie Tieden: Hier sehen wir zwei Effekte. Einerseits wurden manche Menschen erst während der Corona-Pandemie neu depressiv, andererseits haben die Auswirkungen der Corona-Pandemie bei vielen Patienten mit bestehender Depression die Symptomatik noch verschlechtert. Da hat Corona quasi wie ein Brandbeschleuniger gewirkt und eine schon begonnene oder bestehende Depression zusätzlich verschlimmert.
Sie sagen, Corona ist ein Brandbeschleuniger für psychische Krankheiten. Was meinen Sie damit?
Dr. med. Stephanie Tieden: In der Corona-Pandemie sind eben viele Belastungsfaktoren neu dazu gekommen, das Stresslevel für die einzelnen Menschen hat sich drastisch erhöht. Andererseits sind viele Möglichkeiten weggefallen, die man nutzen kann, um Stress wieder reduzieren. Und nicht jeder hat gute Möglichkeiten, auch mit den Einschränkungen des Lockdowns noch gut für sich selbst zu sorgen, sei es weil Zeit, Geld oder Möglichkeiten fehlen.
Welche Herausforderungen haben depressive Menschen während der Pandemie?
Dr. med. Stephanie Tieden: Es ist nicht einfach, mit depressiven Symptomen den Alltag so zu gestalten, dass man das richtige Maß an Aktivität und Erholung für sich findet und auch die richtige Unterstützung bekommt. Bereits vor der Pandemie hat das viele Patientinnen und Patienten vor große Herausforderungen gestellt, in der Pandemie hat sich aber leider auch die Versorgungs- und Behandlungssituation nochmals deutlich verschlechtert. Bereits vor der Pandemie musste man oft monatelang auf einen Facharzttermin oder eine Psychotherapie warten, während der Pandemie sind dann nochmals mehr Behandlungsmöglichkeiten weggefallen. Viele Therapeuten und Therapeutinnen konnten aufgrund des Lockdowns weniger Therapien anbieten, während aber gleichzeitig der Bedarf enorm gestiegen ist. Hier droht wirklich eine Unterversorgung bei professionellen Hilfen.
Gibt es Warnsignale, merke ich, wann ich gegensteuern muss?
Dr. med. Stephanie Tieden: Wenn ich merke, dass die Stimmung schon länger als zwei Wochen auffällig gedrückt ist, mir auch Dinge keine Freude mehr machen, die ich früher genießen konnte, wenn ich nicht mehr gut schlafen kann, wenn die Gedanken im Kopf kreisen und die Sorgen immer stärker werden oder aber auch völlige Leere und Gefühllosigkeit im Kopf herrscht, wenn ich keinen Appetit mehr habe oder erst Recht aus Frust viel esse, dann können das Alarmsignale für eine mögliche depressive Entwicklung sein. Wenn es mir schwer fällt, morgens aufzustehen, weil der Tag wie eine Last vor mir liegt, wenn mir Ziele fehlen, wofür sich das Aufstehen überhaupt lohnt oder die Energie komplett fehlt, um den Anforderungen des Alltags gerecht zu werden. Viele depressive Menschen leiden auch unter Hoffnungslosigkeit, sehen die aktuelle Lage und die Zukunft nur noch grau in grau und können sich gar nicht mehr so richtig vorstellen, dass das jemals nochmal besser wird. Auch Schuld- und Versagensgefühle, ein Sich-selbst-verantwortlich machen für die aktuelle Situation, spielen eine große Rolle.
Was ist zu tun, wenn ich bei anderen solche Signale wahrnehme?
Dr. med. Stephanie Tieden: Wichtig ist: Nicht schweigen, sondern konkret ansprechen, dass man den Eindruck hat, dem Gegenüber geht es nicht gut und Hilfe anbieten, die oft erst mal nur im Zuhören und Dasein besteht. Vielen geht es allein durchs Sich-Mitteilen-Können schon etwas besser. Das Gefühl, ganz allein mit den Sorgen zu sein, verstärkt bei vielen Menschen die depressive Symptomatik noch zusätzlich und führt zu einem tiefen Empfinden von Wert- und Bedeutungslosigkeit. Wenn aber jemand da ist, der nicht locker lässt, immer wieder nachfragt und sich ehrlich dafür interessiert, wie es mir geht, dann kann das zumindest ein bisschen Hoffnung geben. Und oft hilft auch ganz praktische Unterstützung wie Kinderbetreuung anbieten, beim Suchen nach professioneller Hilfe unterstützen beziehungsweise die konkrete Aufforderung, dass man sich auch mit solchen Symptomen an seinen Hausarzt oder eine Beratungsstelle wenden darf. Ermutigung ist hier auch ganz wichtig, denn viele schämen sich, denken, dass sie sich ja einfach nur nicht genug anstrengen und das alleine irgendwie wieder hinbekommen müssen. Aber Depressionen sind schwerwiegende Erkrankungen, die auch Hilfe von außen benötigen und oft nicht durch eigene Kraft wieder verschwinden.
Welche Möglichkeiten gibt es, auch in Zeiten der Pandemie, für sich selbst, für seine seelische Gesundheit zu sorgen?
Dr. med. Stephanie Tieden: Hier gibt es einerseits allgemeine Dinge, die quasi fast allen Menschen helfen, Stress zu reduzieren und die Psyche zu stärken: Ausgewogene Ernährung, ausreichend Schlaf, regelmäßige Bewegung, aktives Rausgehen in die Natur und soziale Kontakte. Und dann hat natürlich jeder noch einzelne Dinge, die ganz persönliche Kraftquellen sind: Manchen hilft es, andere Sportarten zu beginnen, die man auch alleine ausüben kann (statt Fußball im Verein dann aktiv Radfahren oder Laufen), sich mal ganz bewusst etwas zu gönnen (nicht essen gehen, aber Essen kommen lassen, ein Vollbad nehmen, sich eine gute Bodylotion kaufen), mit guten Freunden telefonieren oder Videoanrufe machen, die bestehenden Möglichkeiten so gut, wie geht, zu nutzen. Wichtig ist auch, nicht alles alleine schaffen zu wollen, sondern sich auszutauschen, mit anderen, denen es ähnlich geht, aktiv um Hilfe zu fragen, wenn man überlastet ist. Sich gegenseitig unterstützen, gegenseitig füreinander da sein, in der Familie, in der Nachbarschaft und Freundeskreis, in kleinen, festen sozialen Gemeinschaften – das ist gerade jetzt sehr wertvoll.
Was macht es mit der Seele, dass die Pandemie so endlos ist?
Dr. med. Stephanie Tieden: Das ist das Schwere an der aktuellen Situation, dass es für uns alle einfach zermürbend ist, weil keiner sagen kann, wie lange wir das noch aushalten müssen. Einerseits gewöhnt man sich an manche Dinge, andererseits fehlt aber eben auch die Perspektive. Eines unserer Grundbedürfnisse, nämlich das nach Kontrolle und Sicherheit für das eigene Wohlergehen, wird gerade massiv bedroht und das erzeugt starke innere Anspannung und Angst – bei allen von uns. Ermutigend finde ich, dass die Menschheit solche Situationen schon häufiger in den letzten Jahrhunderten und Jahrtausenden überstanden hat und es bisher immer irgendwie weiterging, auch während des 30-jährigen Krieges, den Pest-Pandemien oder anderen Seuchen. Und ich persönlich hoffe doch sehr darauf, dass durch die jetzt endlich steigende Anzahl an Impfungen langsam die Pandemie auch wieder eingedämmt werden kann.